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ABSOLUTE GEGENWART

Wie ist es zu verstehen, dass die Zunahme technischer, ökonomischer und sozialer Beschleunigungsprozesse kritisch diskutiert wird, während sich eine Gefühlslage kultureller Starre und politischer Stagnation, diffuse Leere, immer stärker auszu­breiten scheinen? Was verrät diese Koinzidenz? Nicht wenige von uns teilen heute den Eindruck, dass die eigene Gegenwart zunehmend un­fassbarer wird und ein eingreifendes Handeln, das eine qualitative Veränderung provoziert, zunehmend unmöglich geworden ist. Verschwinden und Zementierung der Gegenwart fallen zusammen. „Geschichtslose Augenblicklichkeit“ nannte der Philosoph Paul Virilio diesen Zustand: Die Gegenwart erscheint als ein rasanter und beziehungsloser Leerlauf, dem Vergangenheit und Zukunft ab­handen gekommen sind.­

Phänomene dieses „rasenden Stillstands“ sind vielfältig: Die Informationsdichte nimmt zu, während (oder weil) sich die Intervalle von Moden, Trends und hypes stetig verkürzen. Globale Vernetzung und soziale Mobilität haben einst ungeahnte Ausmaße angenommen. Nicht nur Medien und Technologien, vor allem der Charakter sozialer Beziehungen und die eigene materielle Absicherung sind von diesen Prozessen betroffen. Flexibilität und Mobilität zählen heute zu den höchsten individuellen Tugenden. Einstmals subversive Verhaltensweisen wie Wandlungsfähigkeit und Kreativität sind in Zeiten permanenter und immer kurzfristigerer Veränderungen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt zu gefragten soft skills avanciert. Während uns bei all dem objektiv immer mehr freie Zeit zur Verfügung steht, herrscht das Gefühl der Zeitknappheit: ein Dauerzustand der Hektik, dessen beunruhigendster Effekt wohl ein Subjekt ist, das seine selbstorganisierte Betriebsamkeit freudig-ignorant genießt. Die (vermeintliche?) Vielzahl an Optionen, die sich uns bei der Gestaltung unseres Lebens eröffnet, scheint eine eigentümliche Gleichwertigkeit oder Gleichgültigkeit jeder einzelnen Wahl oder Entscheidung nach sich zu ziehen. An die Stelle leidenschaftlicher Entscheidung tritt permanentes Abwägen, andauerndes Abgleichen von potenziell austauschbaren Optionen. Es scheint als würden gerade die einst ungeahnten Möglichkeiten und Freiräume für die Einzelnen auch zu einer Erhöhung psychischen Drucks, zu fiesen Techniken der (Selbst-)Evaluation und (Selbst-)Optimierung führen. Die Kehrseite des „unternehmerischen Selbst“ ist das „erschöpfte Selbst“.

Im 19. und noch im 20. Jahrhundert war „Zukunft“ ein entscheidender Antriebsmotor für gesellschaftliche Imaginationskraft, für die Artikulation von Wünschen, und ein Kulminationspunkt von individuellen und kollektiven Begehren. Eine zuversichtliche Grundhaltung ihr gegenüber war für die politischen und künstlerischen Praxisformen der Moderne charakteristisch. Geschichtliche Erfahrung von Katastrophen, Desillusion über die politischen Entwürfe und technische Umwälzungen diskreditierten diesen Fortschritts- und Zukunftsglauben nachhaltig. Die Dekonstruktion großer sinnstiftender Erzählungen und die Denunziation ihres Anteils am Unheilvollen charakterisierten die Sequenz der Postmoderne. Nicht zuletzt angesichts knapper natürlicher Ressourcen und nahender ökologischer Katastrophen ist Zukunft heute vorrangig mit negativen Affekten belegt. Statt als gesellschaftliche Projektionsfläche von Begehren zu dienen, hat sich „Zukunft“ in ein Sammelbecken von Unsicherheit und Angst verwandelt. Der heutige Zukunftsbezug drückt sich so eher in Formen der Mahnung, Askese und (Vor-)Sorge aus. Um den jetzigen Zustand zu erhalten, gelte es Maßnahmen der Entsagung einzuleiten – darin ähneln sich die Moral ökologischer Initiativen und die Glaubenssätze der Ökonomie.

Zwar führten die jüngsten ökonomischen „Krisen“ zu einem ungeahnten quantitativen Ausmaß von Protest und Kritik, ein wirkliches politisches Umdenken zogen sie aber nicht nach sich. (Es scheint als hätten übermäßiges Wissen und distanzierende Kritik eher entlastende Funktionen.) Eine regelrechte Pervertierung moderner Zukunftsorientierung zeigt sich in der Rede von der „Alternativlosigkeit“ gegenwärtiger Entscheidungen, mit der politische Eliten von vorne herein Diskussionen über den Charakter unseres Zusammenlebens blockieren. „There is no alternative“, so lautet einst wie heute die Parole, die der so genannten Sicherung des Wohlstands dient. Wir müssen so handeln, „zum Wohl unserer Kinder“, „zum Wohle der Zukunft“. Damit es weitergeht und sich nichts ändert.

Die Atmosphäre der ABSOLUTEN GEGENWART durchlöchern schlagartig „Fundamentalismen“ und terroristische Aktionen, während zeitgleich in der post-politischen „Mitte“ Ressentiments massiver und ungenierter an die Oberfläche drängen. Darüber hinaus scheinen Fatalismus einerseits und ironische Distanz und Zynismus andererseits in linken und liberal-demokratischen Kreisen die prägenden Reaktionsweisen auf die ABSOLUTE GEGENWART zu sein. Aus der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problemlage resultieren so vorrangig private Resignation und individuelle Ohnmachtsgefühle statt politische oder künstlerische Artikulationsformen. (Rest-)Zufriedenheit, Ideenlosigkeit und das Mantra der Alternativlosigkeit amalgamieren sich. „ABSOLUT“ ist diese Gegenwart, nicht nur da sie sich als eigentümliche Gleichgültigkeit und Zeitlosigkeit entpuppt, sondern auch weil substanzielle Veränderungen in ihr zunehmend undenkbar werden.

Das stellt auch emanzipatorische Politik vor Probleme. Politischer Gestaltungswille erstreckt sich, abseits von Ressentiment und Hass, abseits von gewalttätiger Abfuhr von Affekten, zunehmend auf den privaten Bereich oder das soziale Umfeld. Homogenisierte soziale Formierung wird als politische Praxis missverstanden. Politik scheint sich heute entweder in Fragen des individuellen Lebensstils zu verflüchtigen, dessen vordringlichste Frage es ist, welches die richtigen Konsumentscheidungen sind (nachhaltig, biologisch, fair) oder aber in der Ausarbeitung von ethischen Kodizes innerhalb der eigenen sozialen Gruppe aufzugehen. Die Energie wird verausgabt in der immer diffizileren Ausarbeitung von Sozialtechniken, die sich zumeist auf das eigene Umfeld erstrecken und sich an die Stelle eines auf Allgemeinheit zielenden politischen Handelns gesetzt haben.

Das ist die Skizze der Situation, die wir unter dem Begriff ABSOLUTE GEGENWART zu fassen versuchen. Krisendiskurse und Verfallsgeschichten sind Teil dieser Gegenwart, ihre Vermehrung der eigentümlich Ausdruck dieser Gegenwart. Auch sie haben letztlich Anteil der Stabilisierung und Totalisierung der Gegenwart, an der Ausweglosigkeit, die sie doch zu beschreiben und zu kritisieren versuchen. Vielleicht sind die regelmäßigen Abständen hier und da anklingenden Klagen über die Unübersichtlichkeit und Komplexität der Gesellschaft im global gewordenen Kapitalismus Teil eines Prozesses der (Selbst-)Täuschung. Vielleicht müssen wir gar aus dem Denken des Projekts, das den Sinn in eine ferne Zukunft projiziert, aussteigen, anstatt ihm nachzutrauern?

Den Pessimismus zu organisieren (Benjamin), bedeutet heute allen voran, die Pathologien unserer Zeit – Erschöpfung, Ohnmacht und Depression, aber auch Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit – zu politisieren, das heißt: unser Vermögen und Unvermögen, unser Genießen und unser Leiden, den Mangel und das Begehren aus der individualistischen Sphäre herauszuheben und dabei aufmerksam den Blick nach vorne und zurück zu richten – um unsere Gegenwart zu treffen. Jenseits der Trauer, jenseits der Nostalgie.